Zeitschrift
für Kindergarten und Unterstufe: «4 bis 8» Nr. 3/03 S1
Das
goldene Zeitalter der traditionellen Spielverse
Susanne Stöcklin-Meier
Verse
wecken das Bedürfnis mit Worten schöpferisch umzugehen und trainieren
die Sinne des Kindes. Der rhythmische Singsang animiert zum Wiederholen
und löst eine Art freudigen «Wiederholungstick» aus.
Gute Gründe um altes Volksgut neu zu entdecken.
Zwischen
drei und acht Jahren ist für Kinder das goldene Zeithalter der traditionellen
Spielverse. Anfangs sind sie vom rhythmischen Singsang kleiner Reime fasziniert,
wiederholen Silben und sprechen die Verse nach. Wenn diese zum Spielen,
Bewegen, Lachen und Selbermachen animieren, lösen sie eine Art «freudigen
Wiederholungstick» aus. Die Kinder spielen oft über längere
Zeit intensiv nur «ihren» Vers. Es gibt sie auch im Kindergarten,
diese Dauerbrenner. Ich denke etwa an: «Öpfel, Öpfel Stückli»
– «Füf Söili chömme cho z laufe» –
«Ridli, Redli lauf» – «Am dam dess!»
Die erlebte Sprachfreude weckt im Kind das Bedürfnis, mit Wörtern
schöpferisch umzugehen. Sie fördert die Fantasie, die inneren
Bilder und das Fabulieren.
Vergessenes
Volksgut
Leider ist diese für Kinder so wichtige Art der Sprachkommunikation
vielerorts abgebrochen. Die Erwachsenen kennen die Verse nicht mehr, und
können sie darum auch nicht mehr im passenden Moment spielerisch
anbieten. Sie müssen sich dieses Wissen aus Büchern und an Kursen
wieder aneignen. Die Mühe lohnt sich hundertfach, wenn man die intensive
Reaktion der Kinder sieht. Wie viel Freude, Nähe, Spannung und Genuss
kann die Wiederholung dieser Verse auslösen. Ihre Dynamik lässt
sich steigern durch laut und leise, hoch und tief, schnell und langsam
sprechen. Wichtig ist, dass wir den Kindern genügend Zeit geben,
damit sie innerlich «mitschwingen» können und das ist
laut Wissenschaft erst nach etwa drei- bis fünf Minuten möglich.
Würgen wir darum die Wiederholung nicht ab.
Das
Geheimnis einer guten Spracherziehung
Die Erziehenden sollten möglichst viele Reime, Lieder und Sprüche
kennen und diese den Kindern im richtigen Moment spontan anbieten: Wenn
sich das Kind verletzt hat, ein Vogel zwitschert oder eine Schnecke über
den Weg kriecht, wenn es regnet oder schneit. Dabei ist der Sinn dieser
Wortspiele nicht, dass das Kind die Verse streng auswendig lernt und vorsagt.
Sprachdrill ist für Vorschulkinder unsinnig. Es geht vielmehr um
ein lustbetontes, spielerisches Nachahmen.
Spielverse sind unter anderem auch eine Art Turnverse. Denken wir nur
an Blas- und Pfeifspiele, Zungenkünste, Geräuschverse, Handgeschichten,
Fingerverse, Malspiele, Kniereiter, Abzählreime, Klatschverse, Zungenwetzer
und Schnellsprecher. Gute Verse tragen immer einen Funken Humor in sich
und lösen bei den Kindern Heiterkeit aus.
Die Feinmotorik ist mit dem Sprachzentrum gekoppelt. In der Entwicklung
der Kinder besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Bewegung und Sprache.
Kinder, die in den ersten Jahren eine gute Sprachförderung gekoppelt
mit Bewegung erhalten, haben es später in der Schule leichter. Sie
können ihre Gedanken besser formulieren, Gefühle und Wünsche
äussern, Erlebnisse erzählen, Geschichten erfinden, soziale
Kontakte knüpfen, Probleme aussprechen und Konflikte verbal lösen.
Alles, was sich in Worte fassen lässt, wird klarer, verständlicher
und fassbarer.
Die magische Kraft der Schlaflieder und Trostverse
Schlaflieder und Trostverse sind uralt und auf der ganzen Welt bekannt.
In ihrem leisen Singsang wohnt magische «Zauberkraft». Schlaflieder
beruhigen Kinder und begleiten sie ins Traumland. Trostverse bannen den
kindlichen Schmerz. Die Heilkraft des Verses lässt den Schmerz verschwinden.
Kinder, die diesen Trost kennen, fühlen sich geborgen und geben dieses
Getröstet werden mit viel Liebe an ihre Puppen- und Bärenkinder
weiter.
Heile,
heile Chätzli,
das Chätzli het vier Tätzli
und e länge Schwanz,
morn isch alles wieder ganz.
Lösch
s Liecht us,
is Bett chlini Mus,
nimm dr Teddybär in Arm
und gib im schön warm.
Kinder
lieben Kauderwelsch
Alle Kinder sind fasziniert von klangmalerischen Abzählreimen, die
man nicht versteht, die aber herrlich und geheimnisvoll klingen. Hier
ein traditionelles Beispiel:
Eni
eni depp, utklamana schnepp,
utklamana ysatana, eni eni depp
Die
Hexe Querulex und Zeichnungsverse
Für die meisten Kindergartenkinder klingt Hochdeutsch «nobel».
Darum dürfen neben den Mundartversen auch die Hochdeutschen nicht
fehlen. Hier eine kleine Spielgeschichte, in der die Sprache nicht nur
in körperliche Bewegung umgesetzt wird, sondern auch in Farbe und
Musik. Die Hälfte der Kindergruppe lässt den Vers mit Lautmalerei
und einfachen Instrumenten musikalisch erklingen. Der Rest der Gruppe
wetteifert mit der Hexe Querulex beim Klexen mit Fingerfarben:
Die
alte Hexe Querulex
machte einen riesengroßen Klex
aus dunkelblauer Tinte,
dann fing es an zu fliessen,
dann fing es an zu giessen,
dann fing es an zu krachen
dann fing es an zu lachen,
dann war die Wolke leer,
und es regnete nicht mehr.
Hätt' die Hexe nicht geklext,
wär das Wetter nicht verhext!
Schulfähige
Kinder freuen sich an Malversen. Am besten ist es, wenn sie diese mit
Kreide oder dickem Filzstift in grossen Schwüngen auf Packpapier
malen können. Zeichnungsverse sehen besonders lustig aus, wenn sie
mehre Male mit verschiedenen Farben übereinander gemalt werden. Hier
ein rhythmisches Beispiel:

Punkt, Punkt, Komma, Strich,
fertig ist das Angesicht,
und zwei spitze Ohren,
so wird sie geboren.
Ritze, ratze, ritze, ratze,
fertig ist die Miezekatze.
Zwei Messer im Rücken
Nach Sigmund Freud brauchen Kinder neben den sanften Spielen auch: «Das
süsse Spiel mit der Angst». Solche Spiele werden je nach Situation
eingesetzt.
Der folgende Vers wird zu zweit gespielt. Der passive Spieler sitzt auf
einem Stuhl und der aktive steht hinter dessen Rücken. Die Rollen
werden nachher bewusst gewechselt. So wird zum Sprechen gespielt:
Zwei
Messer im Rücken,
Der aktive Spieler «sticht» dem Sitzenden die Zeigefinger
in den Rücken.
Spinnen im Haar,
Mit allen zehn Fingern sanft auf der Kopfhaut kraulen.
Blut fliesst hinunter,
Mit den Fingerspitzen langsam und behutsam über Wangen und Hals streichen.
Dracula ist da!
Mit beiden Händen den passiven Spieler an den Schultern packen.
Kaugummi
turnen
Zum Abschluss dieses Rundganges durch die Welt der Verse möchte ich
noch auf das bewährte Kaugummi turnen hinweisen. Es stärkt die
Kau- und Zungenmuskulatur. Diese lustbetonten Übungen helfen mit,
Sprachfehler einzudämmen und machen grossen Spass. Pro Woche zwei-,
dreimal zehn Minuten mit einem zuckerfreien Kaugummi im Mund wie folgt
turnen wäre ideal.
• Wir kauen mit offenem Mund kräftig, laut und schmatzend,
wie die Räuber.
• Wir schliessen den Mund und kauen manierlich, möglichst geräuschlos
links, rechts, vorn, wie die noblen Damen.
• Hinter den oberen Schneidezähnen formen wir mit Hilfe der
Zunge eine Banane. Mit Daumen und Zeigefinger aus dem Mund nehmen und
zeigen. Die Vergleiche amüsieren die Kinder und spornen gleichzeitig
an, möglichst gut erkennbare Figuren mit der Zunge zu formen.
• Hinter den Schneidezähnen formen wir eine kleine Kugel; herausnehmen
mit Daumen und Zeigefinger und zeigen.
• Im Gaumen zerdrücken wir die Kugel zu einem hauchdünnen
Plättchen; herausnehmen und zeigen.
• Mit Hilfe von Daumen und Zeigefinger vorsichtig einen möglichst
langen, dünnen Faden zwischen den Schneidezähnen herausziehen.
Loslassen und vorsichtig wieder «aufessen».
• Mit der Zunge nochmals eine kleine Kugel formen. Zwischen den
oberen Backenzähnen und der Wange einklemmen. Mund aufsperren, Zunge
herausstrecken. Der Kaugummi darf nirgends zu sehen sein.
• Zum Abschluss unseres Kaugummi turnens singen wir ein Lied. Der
Kaugummi bleibt im Mund versteckt. Für Kinder eine schwere Kunst.
Susanne
Stöcklin-Meier, ehemalige Kindergärtnerin, schreibt seit 30
Jahren erfolgreich Mitmachbücher für Kinder zwischen 4–8
Jahren. Sie gibt im In- und Ausland Vorträge zu ihren Buchthemen
für Eltern, Spielgruppenleiterinnen und Erzieherinnen.
Eine
Bücherauswahl von Susanne Stöcklin-Meier:
Verse, Sprüche und Reime: pro juventute verlag
Spielen und Sprechen: Buch und MC pro juventute verlag
Eins, Zwei, Drei, Ritsche, Ratsche, Rei: Buch und CD Kösel Verlag
Unsere Welt ist bunt! Buch und CD, Kösel Verlag
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