Kinderbuchautorin Susanne Stöcklin-Meier
Schweizerfamilie 10. August 2010 / Text: Lisa Inglin, Fotos: Kilian Kessler

«Spielen ist das Leben der Kinder»

Sachen suchen und selber machen oder Reime sprechen. Susanne Stöcklin-Meier hat in dreissig Büchern zusammengetragen, was Kinder glücklich macht. Und wurde sogar von der UNESCO geehrt.


 Foto: Kilian Kessler
Ihr Kapital ist die Liebe zu den Kindern:
Die Autorin in ihrem Garten in Diegten BL

Umgeben von Blumen und summenden Insekten sitzt Susanne Stöcklin-Meier an einem der vier Sitzplätze in ihrem Garten in Diegten im Baselbiet. Das Krautige und Blumige, die Farben, Schatten und Bewegungen der Pflanzen inspirieren sie, die Welt mit Kinderaugen zu sehen: voller Rätsel und Wunder und Märchen. «Müsste ich mich mit einer Märchenfigur vergleichen», sagt sie, «wäre ich die Goldmarie.» So vieles sei ihr einfach zugefallen.
Dass die Kinderbuchautorin heute anerkannte Expertin für Kinderspiele ist, verdankt sie allerdings nicht nur ihrem Glück. Sie ist eine unermüdliche Schafferin.
Dreissig Bücher über Kinderspiele, Verse, Märchen, Rituale und die Vermittlung von menschlichen Grundwerten hat sie verfasst. Einige davon sind Lehrmittel an pädagogischen Hochschulen. Die Schweizerische Unesco-Kommission würdigte ihre Arbeit, durch die «das immaterielle Kulturerbe der Gemeinschaft ‹Kinder› erhalten bleibt und weiterlebt». Eine grosse Ehre, und das ohne akademischen Titel. Ihr Kapital ist die Liebe zu den Kindern.
Nach Diegten kam sie als junge Kindergärtnerin. Es gab dort eine Gesamtschule mit zwei Lehrern. Einer davon war ledig – den heiratete sie. Zwei Töchter kamen zur Welt. Sie wurde angefragt, bei der Redaktion des «Schweizerischen Kindergartens» mitzumachen. Damit begann ihre Karriere als Autorin.

Rhythmus und Witz
Nach einem Zeitungsartikel über Kreisspiele ging es «wie im amerikanischen Märli» weiter. Ein Verlag rief an und wollte ein Buch darüber. Sie begann zu sammeln, ging auf Schulplätze, sprach mit Lehrern und Grossmüttern. Ihr nächstes Buch «Verse, Sprüche und Reime für Kinder» aus dem Jahr 1974 wurde zum Klassiker mit bisher 22 Auflagen. Seither trifft man Susanne Stöcklin-Meier als Rednerin an internationalen pädagogischen Kongressen und in Gemeindesälen. Gegen hundert Vorträge hält sie pro Jahr. «Bei diesen Begegnungen mit Müttern und Erziehern kommt immer etwas zurück», sagt sie. So wurde ihre Sammlung von Kinderspielen und -versen immer reicher.
Damit ein Vers den Kindern Freude mache, müsse er rhythmisch und witzig sein – also Pfiff haben und Gefühle ansprechen. Wichtig sei das Zusammenspiel von Sprache und Bewegung. Sie zeigt es mit einem Fingervers vor:
«Der geit nach Afrika
Der luegt ihm truurig nah
Der seit: Ade, ade
Der seit: Uf Wiederseh
Der seit: Uh du, pass uf, im Nil
hets so es grosses Krokodil»

Foto: Kilian Kessler
„Je mehr Gefühlslagen ein Kind durchspielen kann,
desto stabiler wird es“: Susanne Stöcklin-Meier

Der Reiz der derben Verse
Ihre Handflächen klappen auf und zu wie der Rachen eines Krokodils. «Darauf springen Kinder an», sagt sie. «Alle. Dann wollen sie das nochmals und nochmals wiederholen.» In ihrer Sammlung gibt es zarte Verse zum Trösten, um in den Schlaf zu wiegen und zu kuscheln. Aber auch wilde und lustige, traurige und hundsgemeine. Besonders schnell lernen Kinder die unanständigen Verse. Derbe, verbotene Reime auszusprechen, scheint Kinder in einem bestimmten Alter ungemein zu reizen. Wie der Abzählvers:
«D Müllere het sie het,
d Müllere het i d Hose gschisse
und am Ma is Füdle bisse.»
Die Pädagogin bleibt gelassen: «Das ist wie eine Kinderkrankheit, das geht vorbei.» Wie bei den Märchen soll auch beim Spielen und Sprechen die ganze Bandbreite der Gefühle vorkommen. «Je mehr Gefühlslagen ein Kind durchspielen kann, desto stabiler wird es», ist Susanne Stöcklin-Meier überzeugt.

Der Vater, der Dichter
Bereits vor vierzig Jahren erkannte sie die Bedeutung der kindlichen Sprachspiele mit Rhythmus und Bewegung instinktiv. Heute bekommt sie viel Schulterklopfen von den Hirnforschern. Weil sie erkannt hat, dass eine Repetition die Voraussetzung des Lernens ist: Es braucht etwa fünfzig Wiederholungen, bis sich im Hirn eine Rille bildet, die Wortschatz und Satzstruktur festigt.
Susanne Stöcklin-Meier erzählt mit sichtbarem Vergnügen. Die Lust am Erzählen habe sie von der Mutter, die Lust am Schreiben vom Vater. Ihre Mutter Dorli Meier war eine begnadete Sonntagsschullehrerin. Ihr Vater der bekannte Dichter Gerhard Meier. «Der Weltbürger aus Niederbipp» wurde er nach seinem Tod im Jahr 2008 genannt.
Die Tochter gesteht: «Lange habe ich nicht gesagt, dass er mein Vater ist, denn ich war eine kleine Rebellin und brauchte selber Platz.» Das Erstaunliche dabei: Sie fingen praktisch gleichzeitig mit dem Schreiben an. Gerhard Meier, der früh Familienvater wurde, hatte sich die Literatur lange «verklemmen» müssen. Seinen literarischen Durchbruch erlebte er ungefähr zur gleichen Zeit, als Tochter Susanne ihr erstes Buch veröffentlichte. Sie war damals 27.
In ihren Kindheitserinnerungen sieht sie Gerhard Meier nicht als Schriftsteller, sondern als jungen humorvollen, unkonventionellen Vater: «Er besass akrobatische Fähigkeiten und liebte es, die Leute mit einem Überschlag aus dem Stand zu verblüffen. Plötzlich machte es ‹tack› – alle erschraken. Das fand er wahnsinnig lustig. Oder er kam im Handstand die Treppe herauf und bei der Küchenkombination um die Ecke – meine Mutter schrie, weil plötzlich Füsse um die Ecke kamen. Er hatte es faustdick hinter den Ohren.»
Ihre Eltern waren auf eine undogmatische Art gläubig. Sie besassen ein sogenanntes «Losungsbüchlein» mit einem Bibelspruch für jeden Tag. Beim Nachtessen las die Mutter häufig diese Sprüche, was lebhafte Diskussionen auslöste. Susanne Stöcklin-Meier erinnert sich besonders an den Spruch: «Den Gottlosen wird noch das Gras auf dem Grab leicht.» Die Ungerechtigkeit dieser Aussage habe sie elend aufgeregt. «Über so etwas konnten wir stundenlang diskutieren», sagt sie, «und enang am Gring näh.» Dieses anregende Klima schätzte sie enorm. Was sie ausserdem von ihren Eltern mitbekam: «Ein unglaubliches Vertrauen ins Leben.»

Probleme selber lösen
So gerne sie zurückblickt, so sehr interessiert sie sich für die Entwicklungen der Gegenwart. Mit sechzig Jahren kaufte sie sich einen Computer und arbeitet damit mit grosser Begeisterung. Schulische Neuerungen, wie die schriftdeutschen Lektionen im Kindergarten, bringen sie nicht aus dem Häuschen. «Natürlich ist Mundart etwas weicher und seelenwärmer – aber man kann auf Hochdeutsch genauso witzig spielen und sprechen», erklärt sie. Schade findet sie hingegen, dass man von Kindern heute oft allzu viel Rationalität erwarte. Für Susanne Stöcklin- Meier besteht der Zauber der frühen Kindheit zu einem grossen Teil aus dem Hin- und Herhüpfen zwischen der Realität und der Fantasie mit all ihren Figuren wie Elfen und Zwergen und selbst ausgedachten Gefährten. Als sie fünf Jahre alt war, erkrankte sie an Kinderlähmung. Sie war im Spital und konnte monatelang die Beine nicht mehr bewegen. «Die Fantasie hat mich gerettet», sagt sie über diese Zeit. «Ich war nicht allein, denn ich hatte meine Wesen um mich herum. Da konnte ich laut reden und singen und mir alles vorstellen.»
Ein grosses Anliegen ist ihr, dass Kinder auch weiterhin genug Zeit zum Spielen haben. «Spielen ist das Leben der Kinder», betont sie: «So entwickeln sie die Sprache, alle Sinne, alle Gefühle und wachsen in die Welt.» Dazu gehöre auch, selber Lösungen für Probleme zu finden, die beim Spielen auftauchen. Heute sei die Zeit aber zu stark verplant mit Kursen. Kinder seien Sachensucher und wollen neben fertigen Spielsachen auch anderes Material: Steine, Tücher, Stöcke, Sand, ein Hut des Vaters oder Schmuck der Mutter. Weil das Spielen ein so wichtiges, unerschöpfliches Gebiet ist, schrieb sie zu ihrem bevorstehenden siebzigsten Geburtstag zwei neue Bücher darüber. Auf ihren runden Geburtstag angesprochen, sagt Susanne Stöcklin-Meier, sie staune selber, dass sie bereits siebzig werde. Aber: «Die Seele bleibt jung», habe ihr Vater immer gesagt. Das empfinde sie auch so.

Neue Bücher von Susanne Stöcklin-Meier:
«Spielen, Bewegen, Selbermachen … und zusammen lachen»,
Atlantis, 224 Seiten, Fr. 29.80, erscheint im August 2010.
«Spiel: Sprache des Herzens»,
Kösel, 256 Seiten, Fr. 30.90, Juli 2010.

Mehr zur Autorin:
www.stoecklin-meier.ch