ri–ra–rutsch
Gespräch
von Regina Kesselring mit Susanne Stöcklin-Meier zum 70. Geburtstag
„wir eltern - Das Familienmagazin für die Schweiz,“
September, Nr. 9/ 10
«Wir
suchen alte Kinderverse» – dieser Aufruf erschien 1972 in
wir eltern. Eine wahre Flut von Einsendungen erreichte die Redaktion.
Daraus ging Susanne Stöcklins Buch «Verse, Sprüche und
Reime» hervor. Und hatte einen Bombenerfolg. Seither hat sie über
30 Bücher veröffentlicht, hält Vorträge und wird
mit Preisen geehrt. Zu ihrem 70. Geburtstag bringen gleich zwei Verlage
eine Gesamtschau ihrer Werke heraus.
«Wissen
Sie, Susanne Stöcklins Karriere hat eben bei wir eltern angefangen»,
klärte mich der Herr vom Orell Füssli Verlag am Telefon
auf. Und weil dieses Jahr ein Sonderband zu Ehren der Grande Dame
des Kinderreimes erscheine, wäre es doch nett, ein Portrait von
ihr zu machen. Nicht nur nett wäre das, fand die gesamte Redaktion,
sondern fast ein kleiner Knüller. Schliesslich hat es nicht jede
ehemalige Mitarbeiterin von wir eltern zu so viel Ruhm und Anerkennung
wie Susanne Stöcklin gebracht. Letztes Jahr wurde ihr gar der
Unesco Preis zur Erhaltung kulturellen Welterbes verliehen!
Ihre Bücher
sind wohl jedem, der mit Kindern zu tun oder eigene hat, bekannt.
Nur, was für eine Person steckt dahinter? Was ist das für
ein Typ Frau, die offenbar ihr ganzes Leben in Kinderverse und -spiele
steckt? Offen gestanden hatte ich mir ein bisschen Trudi Gerster in
20 Jahre jünger vorgestellt. Eine Mischung aus liebenswürdiger
Märchentante und altmodischer Jungfer. Zum vereinbarten Treffen
erscheint allerdings eine resolute, witzige und äusserst temperamentvolle
Dame. Nach der herzlichen Begrüssung kommentiert sie zunächst
mein neues Handy, mit dessen Bedienung ich immer noch nicht ganz klar
komme. «Ah, Sie haben auch ein IPhone.» Sie habe schon
länger so ein Gerät und fände es sehr praktisch. Und
schon fängt sie an zu erzählen.
Alles
begann vor mehr als 40 Jahren. «Damals habe ich der NZZ einen
frechen Leserbrief geschrieben», klärt Susanne Stöcklin
mich auf. Als junge Mutter und Kindergärtnerin, die sie war,
fand sie, es gebe zuwenig für und über Kinder in der «Züri-Ziitig».
Dann solle sie doch einmal zwei Seiten mit Spielen und Reimen schreiben,
sei prompt der Vorschlag von der NZZ gekommen. Und damit startete
die junge Frau ihren Werdegang als Autorin und Hüterin traditioneller
Sprachspiele und als anerkannte Instanz in Sachen kindliche Entwicklung
und Spiel. Kaum war ihr Artikel erschienen, klopfte auch schon ein
Verlag bei ihr an und bestellte ein Buch. «Da begann eine Art
amerikanische Tellerwäscherkarriere», sagt die Erfolgsautorin,
offenbar noch heute überrascht von dem enormen Echo. Ein keckes
Schmunzeln huscht über ihr Gesicht. In solchen Momenten blitzt
das Kind in ihr auf. Vermutlich liegt auch darin ihr Erfolg –
das kindliche Gemüt ist für sie nicht einfach Forschungsgegenstand,
sondern lebt ein bisschen in ihr selbst. «Sprache und Spiele
waren und sind mein Leben», sagt Susanne Stöcklin. Ihr
Vater ist der bekannte Schweizer Schriftsteller Gerhard Meier. «So
wie ich aufgewachsen bin, das war schon sehr anregend.» Mit
ihren Eltern und zwei Geschwistern wurde immer viel diskutiert, gespielt
und gelacht, sagt die 70-Jährige, offenbar noch heute dankbar
für ihr Glück. «Eine idyllische Kindheit hatte ich,
in einem alten Bauernhaus und mit viel Freiheit.»
Alte Verse
sind besonders beliebt
Automatisch kommen mir Paul Anker-Bilder in den Sinn. Und dennoch:
Susanne Stöcklin haftet gar nichts Altmodisches oder Ewiggestriges
an. Im Gegenteil. Flink und effizient bedient sie ihr Iphone, ihre
Korrespondenz führt sie vor allem per E-Mail. Ohne Computer,
so sagt sie, könne sie heute gar nicht mehr leben. Aber sie ist
auch im Jahr 2010 immer noch so überzeugt wie vor 40 Jahren,
dass etwas ganz Wichtiges verloren geht, wenn die alten Sprüche,
Verse, Spiele nicht weitergegeben werden. Auch die moderne Webgeneration
brauche Singspiele wie «So ryte die Herre, die Herre, die Herre».
«Kinder lieben es, diese Verse und Liedli immer wieder zu hören»,
sagt Susanne Stöcklin, «denn sie brauchen die Sprachmelodie
und die Wiederholung, das ist auch im 21. Jahrhundert noch so.»
50 Mal wollten die Kleinen ihre Finger abzählen, immer zum selben
Text: Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen…Und
wehe, wenn Mama oder Papa etwas falsch sagen!
Das mag ja alles sein, aber brauchts dafür wirklich die uralten
Sprüche und Liedli mit der Patina aus einer Zeit, die mit der
unsrigen nichts mehr zu tun hat? Geht denn das nicht auch mit Schtärnefoifis
«Ohne Znacht ins Bett»? Vielleicht. Aber es scheint so
zu sein, dass die Kinder und Eltern genau die Spiele und Reime lieben,
die Susanne Stöcklin seit mehr als 40 Jahren in ihren Büchern
sammelt. Sonst würden sie sich schliesslich nicht so gut verkaufen.
Um den
reichen Schatz der alten Reime zu heben und weiterzugeben, begann
sie gezielt Sprüche, Verse, Abzählreime und Spielen aufzuspüren.
«Weil in den Kleinfamilien die Grossmütter und ledigen
Tanten nicht mehr lebten, welche früher die Traditionen an die
nächsten Generationen weitergaben, wollte ich sie unbedingt festhalten.»
Kurz nach ihrem Artikel in der NZZ begann sie bei wir eltern als Mitarbeiterin.
Gemeinsam mit der Chefredakteurin Maja Spiess heckte sie die Idee
aus, die Leserinnen und Leser in einem Wettbewerb dazu aufzurufen,
ihre Erinnerungen zu durchstöbern und alte Kinderreime einzuschicken.
Eine grosse Schachtel konnte mit den Einsendungen gefüllt werden.
1974 erschien Susanne Stöcklins Buch «Verse, Sprüche
und Reime» im wir eltern Verlag, das sich auf Anhieb über
70000 Mal verkaufte. «Mit so einem Erfolg hatte niemand gerechnet!»
Aus dem Erlös der Tantiemen kaufte sich Familie Stöcklin-Meier
den ersten Fernsehapparat.
Seitdem
hat sich Susanne Stöcklin mit ihren über 20 Büchern
zu frühkindlichem Spiel einen Namen gemacht. Sie hält Vorträge
zum Beispiel zum Thema "Wertevermittlung auf dem Wickeltisch",
wird zur Begutachtung von Lehrplänen eingeladen oder als Rednerin
bei internationalen Symposien. Die Fachwelt schätzt ihr Wissen
und mit Sicherheit auch ihre lebendige Art, die mit dem öden
Dozieren unter Experten rein gar nichts zu tun hat. Und so ist sie
ständig unterwegs, mal hier mal da, während ihr Mann der
Historie ihrer Wohngemeinde nachforscht. Wie ist das eigentlich für
ihn, mit einer so erfolgreichen Frau zusammen zu sein? «Am Anfang
sicher nicht so leicht, aber inzwischen freut er sich mit mir.»
Susanne Stöcklin findet, dass sie grosses Glück mit ihrem
Leben hat. Alles ist gut gegangen, ist ihr zugeflogen und leicht gefallen.
Einen einzigen Wehrmutstropfen gibt es aber doch: Keine ihre beiden
bereits über 40-jährigen Töchter hat Kinder. Enkel
bleiben ein unerfüllbarer Wunsch. Wie gerne hätte sie ein
kleines Enkelkind zu «So ryte die Herre, die Herre, die Herre»
auf den Knien gewippt. «Aber ich weiss, dass ich ganz vielen
Kindern mit meinen Versen und Spielen schöne Stunden geschenkt
habe», sagt die Hüterin der Verse, «und das macht
mich glücklich.»